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Der Container

Mein Schreibcontainer auf Hiddensee (Foto: b. schaefer)
Mein Schreibcontainer auf Hiddensee (Foto: b. schaefer)

Ich habe einen Traum. Schon ziemlich lange träume ich von einem Schreibcontainer. Einem Container aus Stahl, so wie sie auf Schiffen durch den Nordostseekanal transportiert werden. Dieser Container steht am Ende eines großen Gartens, den ein Bach begrenzt. Am Bach wachsen Erlen, Weiden und Pappeln. Mein Container hat keine Fenster, nur drei Oberlichter, die je nach Witterung geöffnet werden können. Die Stromversorgung funktioniert über eine Solaranlage mit Batterie. Die Wasserversorgung für das Waschbecken über eine Dachzisterne. Waschbecken und Chemietoilette, die ich nicht selbst ausleeren muss, befinden sich in einer Nasszelle, ähnlich jener in einem Wohnmobil. Es gibt keinen Telefonanschluss und kein WLAN. Der Container ist mit hellgrünem Linoleum ausgelegt, die Wände sind nackt. Das Mobiliar besteht aus einem Schreibtisch mit Lampe, auf dem mein Laptop steht. Davor mein ergonomischer Stokke-Schaukelhocker. Dann gibt es noch ein Sofa mit einer Decke und einem Kissen, falls ich mich mal ausstrecken will. Vor dem Sofa steht ein kleiner Tisch. Neben der Tür, zu der nur ich den Schlüssel besitze, gibt es eine Klappe mit einem schmalen Tresen davor. Auf dem Tresen steht die Espressomaschine. Unter dem Tresen steht ein Kasten mit stillem Mineralwasser, das ich auch zum Kaffeekochen verwende.

 

Morgens um neun betrete ich den Container und schließe die Tür hinter mir ab. Bei schönem Wetter öffne ich die Oberlichter und kann die Vögel zwitschern hören. Die Bäume rauschen, der Bach plätschert. Niemand darf mich jetzt stören. Wer auch immer etwas von mir will, muss warten, bis ich den Container wieder verlasse. Das kann Stunden dauern oder auch mal Tage. Ich verspüre keinen sozialen Druck. Ich muss niemandem Rechenschaft ablegen. Ich muss nicht einkaufen gehen. Ich muss nicht kochen. Ich muss nicht putzen. Ich muss nirgendwo Geld verdienen, denn ich habe ein bedingungsloses Grundeinkommen von tausend Euro im Monat. Mehr brauche ich nicht, das zeigt die Erfahrung.

 

Der Container ist groß genug, dass ich darin auf und ab gehen kann. Ich entwerfe meine Szenen grundsätzlich beim Gehen oder Dasitzen und gegen die Wand starren. Erst, wenn eine Sequenz im Kopf ganz klar vor mir steht, wenn ich sie sozusagen abfilmen kann, fange ich an zu schreiben. Manchmal weiß ich den letzten Satz einer Szene vor dem ersten und kann mich dorthin schreiben. Ich habe keine Angst, dass mich jemand unterbricht. Ich habe auch kein schlechtes Gewissen, weil ich mich zum Schreiben zurückgezogen habe und mich niemand erreichen kann. Ich denke überhaupt nicht an die Welt und ihre Gestalten. Ich schäme mich nicht dafür, dass ich mir diesen Raum nehme.

 

Um die Mittagszeit wird durch die Klappe mein Essen geschoben. Ich weiß vorher nie, was es gibt, aber es ist immer sehr schmackhaft. Bis zum Essen habe ich schon einiges weggeschafft. Danach koche ich mir einen Espresso und mache ein Schläfchen. Manchmal, zwischen Schlafen und Wachen, träume ich meine Geschichte weiter. Sobald ich wieder aufstehe, gehe ich an den Schreibtisch und arbeite wieder. Wenn das nicht funktioniert, was nachmittags öfter der Fall sein kann, verlasse ich den Container und gehe am Bach spazieren. Ich schaue über die Wiesen und Felder und versuche, mir vorzustellen, was in meinem Buch als nächstes passieren wird. Irgendwann, wenn ich weiß, wie es weitergeht, wird der Druck so groß, dass ich in den Container zurückkehre. Ich schreibe auf, was ich in meinem Kopf vorformuliert habe. Falls mir unterwegs nichts mehr eingefallen ist, mache ich Korrekturen.

 

Es fällt mir nicht schwer, mich zu konzentrieren. Meine Augen sind nicht müde. Ich freue mich jeden Morgen auf meinen Container. Es geht mir körperlich gut. Ich vermisse nichts und niemanden.

 

Zufrieden verlasse ich abends den Container und freue mich auf Geselligkeit. Niemand nimmt mir mein Leben als Schreibzombie übel. Ich bin ausgeglichen, fröhlich, selbstbewusst und finde das Leben schön. Und vor allem habe ich das Gefühl, dass die Bücher, die im Container entstehen, besser sind als das, was ich bisher geschrieben habe. Alle meine Bücher und Theaterstücke der Vor-Container-Ära sind aus Zeit- und Geldmangel kurzatmig geraten, nicht vollständig durchgeführt, irgendwo fehlt es immer an dem gewissen Etwas oder am sprachlichen Schliff. Bei den Werken, die im Container entstehen, spüre ich, dass ich „etwas mache, das Kunst wird“. Oder zumindest werden könnte. Aber selbst das ist nicht mehr so wichtig. Wichtig ist die Freiheit, es zu tun, nicht so sehr das, was dabei herauskommt. In meinem Container bin ich ganz bei mir. Meine zwei Personen, also mein Ich-Ich und mein Schreib-Ich, sind deckungsgleich, während die beiden außerhalb des Containers doch sehr oft nebeneinander stehen oder sich gegenseitig im Weg stehen bis hin zur völligen Apathie. Seit ich den Container habe, bin ich frei, mir die Filme in meinem Kopf anzuschauen, wann immer ich will, und manchmal, wenn ich einen davon aufgeschrieben habe, bin ich ganz zufrieden, wenn er irgendwann zwischen zwei Buchdeckeln klemmt oder auf einer Bühne erscheint und auch andere zuschauen können.

 

© Beate Schaefer, 2017

 

Lektüreempfehlung: Virginia Woolf „A room of one’s own“