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Meine Berufswünsche

 

Als ich im Jahr 2000 bei Eichborn meinen ersten Roman veröffentlichte, bemerkte ein guter Freund in Anbetracht meines fortgeschrittenen Alters: „Schriftstellerin zu werden war dir wohl nicht in die Wiege gelegt.“

 

Tja, wenn ich das so genau wüsste. Meine ersten schriftstellerischen Versuche habe ich ungefähr mit neun Jahren unternommen. In ein Schulheft schrieb ich die Geschichte von zwei Ponys, aber sie wurde nie beendet, weil mir der Stoff ausging. Ungefähr zur gleichen Zeit fragte ich meine Mutter, wie man eine Radierung macht. Sie konnte mir keine Auskunft geben, und so kritzelte ich ein Blatt Papier mit Bleistift so schwarz wie möglich und versuchte, mit dem Radiergummi ein Pferd zu zeichnen. Auch das scheiterte. Zwei Jahre später erschien eine kleine Sommergeschichte von mir auf der Kinderseite der Frankfurter Rundschau, die bisher (initiiert von meiner Mutter) immer nur Bilder von mir abgedruckt und mich mit Büchern dafür belohnt hatte. Meine Mitarbeit bei dieser Zeitung endete allerdings, als ich zwölf Jahre alt war, denn ich beschloss, nun kein Kind mehr zu sein und daher nichts mehr auf der Kinderseite verloren zu haben. Ich las fast ununterbrochen, aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie ein Buch zustande kam. Dass ein Maler malte, war mir klar, aber Schriftsteller schienen mir irgendwo weit oben in der Atmosphäre auf einer Wolke zu schweben, und wie sie dazu kamen, Texte zu verfassen, die mich nächtelang an den Seiten kleben ließen – das überstieg meine Vorstellungskraft. Schriftsteller waren Wesen aus fremden Galaxien. Dass man sich vornehmen konnte, Schriftstellerin zu werden – undenkbar!

 

Zwischen meinem zwölften und meinem achtzehnten Lebensjahr hörte ich komplett auf zu schreiben und zu malen. Pubertät eben. Pferde waren wichtiger, dann fing das mit den Jungs an, und überhaupt war das Leben so überaus anstrengend ...

 

Kurz vor dem Abitur erschien in der Offenbach Post ein Fragebogen zur Berufswahl. Meine Mutter riss die Seite raus, und ich füllte den Fragebogen aus. Heraus kam: Kunstberichterstatter. Was immer das auch sein mochte – ich hatte nicht das Gefühl, dass dieser Begriff irgendetwas mit mir zu tun hatte.

 

Während dieser Zeit las ich vor allem Klaus und Thomas Mann und wollte Baumschulgärtnerin werden, nachdem ich den Kindertraum „Pferdewirtin Zucht und Haltung“ aufgegeben hatte. Ich ließ mir sämtliche Adressen von Baumschulen im Raum Elmshorn schicken und studierte die Hefte zur Berufswahl, die man in der Unibibliothek ausleihen konnte. Elmshorn deswegen, weil die Landesreit- und Fahrschule mit ihren Holsteiner Zuchthengsten und die Wiege der Holsteiner Pferde, Uetersen, mich immer noch magisch anzogen. Irgendjemand überzeugte mich allerdings davon, dass ich körperlich für die Schwerarbeit eines Baumschulgärtners nicht geeignet sei, und ich nahm von einer Bewerbung Abstand.

 

Um vielleicht doch noch einen Beruf zu ergreifen, der mit Pferden zu tun hatte, bewarb ich mich schließlich für eine Ausbildung zur Krankengymnastin an der Uniklinik Frankfurt, denn die betrieb an der Frankfurter Reitschule therapeutisches Reiten. Ich absolvierte die Aufnahmeprüfung, bestand, und wurde vertröstet, denn den nächsten freien Platz gab es erst in zwei Jahren.

 

Mittlerweile war ich zwanzig und fragte mich nonstop, aber ohne Ergebnis, was ich werden wollte. Ich war von zu Hause ausgezogen, und nahezu am gleichen Tag, an dem mein Schreibtisch in der winzigen Souterrainwohnung stand, die direkt hinter einer Tankstelle lag, fing ich wieder an zu malen. Ich sagte die Ausbildung zur Krankengymnastin ab und begann in der Kleinstadt, wo meine Eltern lebten, ich aber nicht mehr, eine Ausbildung zur Buchhändlerin, die ich nach zwei Monaten abbrach. Kein Talent, keine Lust, keinen blassen Schimmer ...

 

Ich schrieb Gedichte und Kurzgeschichten, zeigte sie aber niemandem. Irgendwas mit Literatur sollte es vielleicht doch sein. Mein Vater sagte: „Bibliothekarin. Dann bist du Beamtin.“ Daraufhin bewarb ich mich bei der Deutschen Bibliothek in Frankfurt. Schon im Aufzug, der uns paar Bewerberinnen in den zwölften Stock des Hochhauses brachte, wurde mir mulmig. Der Testaufsatz, den wir schreiben sollten, hatte das Thema: „Gymnasiale Oberstufe – Pro oder Kontra?“ Ich schrieb eine flammende Verteidigung dieses Konzepts, das es mir immerhin ermöglicht hatte, Chemie und Physik nach der 11. Klasse abzuwählen, und fiel durch.

 

Also dann doch studieren. Aber was? Germanistik kam nicht in Frage. Das Abitur im Deutsch-Leistungskurs hatte ich komplett verhauen. Schriftlich vier Punkte, mündlich zwei Punkte. Kunstgeschichte hatte in Frankfurt einen harten Numerus clausus, und Frankfurt musste es sein, weil ich hier einen neuen Freund hatte und seit Neuestem als Aushilfskraft in den Redaktionsbüros der Frankfurter Allgemeinen Zeitung arbeitete. Der Begriff „Kunstberichterstatter“ tauchte ab und zu in meinem Kopf auf, aber ich wusste nicht, wie man so etwas wurde, und auch meine Erfahrungen in den verschiedenen Redaktionen halfen mir nicht dabei. Mit vagem Eifer schickte ich eine Bewerbung um ein Zeitungsvolontariat an den Schwarzwälder Boten. Auf Empfehlung unseres Chefs vom Dienst, der dort gelernt hatte. Ich bekam eine freundliche Absage.

 

An der Fachhochschule Darmstadt hätte ich gern Innenarchitektur studiert. Aber dafür musste man rechnen können. Wenn ich einen Vorhang abschnitt, war er hinterher länger als vorher. Landschaftsarchitektur in Wiesbaden war kurzfristig auch ein Traum.

 

Meine Tante war Sekretärin des Direktors des Senckenberg-Museums, und ich verbrachte in der Sammlung viel Zeit zwischen den Dinosauriern und Fossilien. Oft nahm sie mich mit ins Dachgeschoss, wo, in Formaldehyd eingelegt, exotische Fische und Reptilien von der Ewigkeit träumten. Ich sprach mit einem der Präparatoren und war begeistert. Nun wollte ich Präparatorin werden, unbedingt. Ich erzählte es meinen Eltern. Die erste Frage meines Vaters galt der BAT-Eingruppierung. Natürlich war es eine am untersten Ende. „Da verdienst du ja nichts“, sagte er. „Wie willst du denn davon leben? Ich spendiere dir ein Jahr Frankreich, ein Jahr England, dann wirst du Europasekretärin" ...

 

... heiratest deinen Chef, kriegst zwei Kinder und wohnst in einer Villa im Vordertaunus, formulierte ich im Stillen weiter.

 

Mich grauste es, aber ich informierte mich trotzdem über die Möglichkeit, in Heidelberg oder Germersheim ein Übersetzerstudium zu machen. Schnell jedoch geriet auch diese Idee in Vergessenheit.

 

Ich schrieb und schrieb, begann mit Porzellanmalerei, studierte halbherzig Slawistik, dann Soziologie, brach das alles ab und bewarb mich bei der Höchster Porzellanmanufaktur für eine Lehre als Porzellanmalerin. Ich wurde nicht einmal zum Eignungstest eingeladen. Dann halt doch Germanistik mit Nebenfach Kunstgeschichte. Das Studium benutzte ich als Ausrede, um zu Hause in meinem Siebziegerjahre-Cordsessel zu fläzen und mich durch die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zu fressen. An der Uni ließ ich mich nur blicken, wenn mich eine Vorlesung oder ein Seminar wirklich, wirklich, wirklich interessierten. Neben der Weltliteratur zog ich mir Bücher rein, die „Frauen schreiben“, „Können Frauen schreiben?“, „Literatur und weiblicher Aufbruch“ hießen, daneben „Mütter ohne Männer“ oder „Will ich wirklich ein Kind“. Marcel Reich-Ranicki hatte soeben in einem Artikel noch einmal bekräftigt, dass Frauen keine Romane schreiben könnten. Ich glaubte ihm unbedingt, denn meine Versuche in Prosa kamen nie über zehn Seiten hinaus. Mir fehlte „das Thema“, denn über mich selbst wollte, durfte, konnte ich nicht schreiben. Ich verachtete die ganze neue, von der Kritik gehypte, autobiografische Literatur von Frauen in den achtziger Jahren, las sie trotzdem, wusste, das ist nicht die Art, wie ich schreiben will, und mühte mich mit Texten im Stil von Tucholsky und Klaus Mann, meinen Göttern dieser Jahre. Einmal erzählte ich meinen Eltern unvorsichtigerweise davon, Schriftstellerin werden zu wollen. Mein Vater sagte: „Es ist alles schon geschrieben worden. Du wirst kein Goethe und kein Thomas Mann, also lass es.“

 

Na gut. Aber auch irgendwas Anderes wollte ich schon lange nicht mehr werden. Dass an mir keine Journalistin verloren gehen würde, war mir nach ein paar Jahren FAZ klar. Dass ich keine Wissenschaftlerin sein würde, verstand sich fast von selbst. Lehrerin zu werden war ein Albtraum, den ich mir ersparte, indem ich auf Magister studierte statt auf Staatsexamen.

 

In den Jahren zwischen 1982 und 1989, in denen ich anscheinend nichts tat als lesen mit leben zu verwechseln, schlechte Gedichte zu schreiben, zu telefonieren und die Texte anderer Leute abzutippen, lernte ich, ohne dass ich es merkte: Recherchieren, Absagebriefe so schreiben, dass der Adressat sich geschmeichelt fühlte, Layouts anfertigen, Korrektur lesen, mit Computern umgehen und eine Menge anderer nützlicher Dinge, die mich fit für den so genannten Arbeitsmarkt machten. Irgendwann hatte ich dann tatsächlich ein Examen und einen Job als Lektoratsassistentin in Bayreuth. Nach drei Monaten schmiss ich hin, ehe sie mich rausschmissen. Aber ich hatte in dieser Zeit meinen ersten längeren Text geschrieben und mehr davon im Kopf.

 

Die nächsten paar Jahre entwickelte ich eine ausgeklügelte Vermeidungsstrategie, was das berufsmäßige Schriftstellersein betraf, und versuchte mich tatsächlich halbwegs erfolgreich als PR-Referentin. Irgendwann jedoch hatte ich die Idee für meinen ersten Roman, und ich schaffte es nicht, sie loszuwerden. Tag und Nacht spukten die Figuren und ihre Geschichten durch mein von Abgabeterminen, Pressekonferenzen und PR-Kampagnen gehetztes Hirn. Wenn ich es jetzt nicht tue, dachte ich, sitze ich mit siebzig da und erzähle allen Leuten, was für eine tolle Autorin ich geworden wäre, wenn ich nicht a) zu wenig Zeit gehabt hätte, b) geheiratet und Kinder bekommen hätte, wenn nicht c) kein Geld da gewesen wäre, wenn nicht d) alles eh schon geschrieben worden wäre. Ich kündigte. Ich schrieb. Ich veröffentlichte. Ich schrieb den nächsten Roman. Und den nächsten. Ich schreibe immer noch. Bin ich eine Schriftstellerin? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich kreise jedenfalls nicht durch jenen Orbit, in dem ich meine literaturschaffenden Helden, allen voran Theodor Fontane, Douglas Adams, Dorothy L. Sayers oder Robert Graves immer noch verorte, weil ich nach wie vor nicht weiß, wie sie das gemacht haben, was sie machten. Ich kratze hier unten auf der Erde Buchstaben in den Lehm, denke manchmal daran, was ich im Laufe von fünfzig Jahren alles habe werden wollen, fühle mich ganz behaglich und zufrieden, und hoffe nur, dass mir genügend Zeit bleibt, die paar Romane und Theaterstücke, die sich noch in meinem Kopf befinden, auch zu schreiben.

 

P.S.: Zwei weitere Berufswünsche sind mir noch eingefallen: Selbstverständlich wollte ich auch irgendwann mal Tierärztin werden, aber das scheiterte an meiner Abiturnote. Und als mir die Sitzerei in den Büros der FAZ auf die Nerven ging, bewarb ich mich als Plakatkleberin. Ich wollte draußen sein, mich bewegen, körperlich arbeiten, statt zu telefonieren und zu tippen. Es war gar nicht so einfach, eine Firma zu finden, die Plakatkleber beschäftigte. Als es mir gelang, rief ich dort an und sagte, ich wolle für sie arbeiten. Der Typ am anderen Ende der Leitung hatte eine tiefe, kratzige Zigarettenstimme. Er lachte und meinte, das sei ein Job für Männer. Als ich darauf beharrte, dass ich das vielleicht doch auch könnte, sagte er: „Na ja, ich weiß ja nicht, wie Sie gebaut sind.“ Ich zog meine Bewerbung zurück ...

 

© Beate Schaefer, 2019