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Bilder schreiben III

5. Februar 2017

Museum Behnhaus-Drägerhaus, Lübeck

Gotthard Kuehl: „Das Waisenhaus zu Lübeck“, Öl auf Leinwand, 1894

 

„Der Mädchenchor sang das Ave Maria leise und demütig. Jede einzelne Sängerin hielt den Kopf auf ihre Weise gesenkt, bewegte die Lippen zärtlich und vorsichtig. Jede einzelne bat um Vergebung für ihre Sünden, die darin bestanden haben mochten, die Priorin des Konvents der Vergini miserabili und ihre Vertrauten zu beneiden. Um die dünnwandigen, zierlich bemalten Tässchen, aus denen sie heiße Schokolade tranken, vor allen Dingen. Oder besser: um die heiße Schokolade, die sie aus diesen Tässchen tranken. Die Mädchen des Konvents büßten aber nicht nur für ihre eigenen Sünden, nicht nur für die Sünde, geboren zu sein, nicht nur für Evas Fehltritt. Sie trugen eine größere Last, denn alle Buße, alles Gebet konnte ihnen das Himmelreich nicht bringen. Sie waren verdammt, das sagte man ihnen seit dem ersten Tag, an dem sie sprechen und verstehen gelernt hatten. Sie waren die Unseligsten der Unseligen, Hurentöchter, verdorben im Fleisch wie in der Seele, und der Grund, weshalb man sie hier aufgenommen hatte, sie großzog, ihnen Kleidung, Essen, Trinken gab, ihnen beibrachte, wie man kochte, putzte, flickte, waren allein die christliche Nächstenliebe sowie das Geld, das Kardinal Torquemada in das Stift investiert hatte. Sie waren nichts wert, aber gerade das, sagte man ihnen, prädestinierte sie dazu, demütige, sittsame, sparsame Ehefrauen zu werden. Dafür bekamen sie eine Mitgift von der heiligen Jungfrau selbst, doch das Gemälde von Antoniazzo Romano in der Kirche der Minerva, das Maria zeigte, wie sie die Geldbeutel an die Mädchen verteilte, durften sie niemals sehen, weil es ihre Leidenschaft hätte wecken können. Denn das Bild war eine Verkündigung, der Engel, der Maria die Botschaft brachte, zu schön, das Rot seines Gewandes zu flammend, seine Füße zu nackt. Selbst eine für Maria und ihre Gnade entbrannte Seele konnten und wollten die Oberin und ihre männlichen Vorgesetzten des Dominikanerordens nicht dulden. Man war sich einig, das Gemälde sei ein Meisterwerk, aber man hielt selbst eine Kopie davon für zu gefährlich, um sie in der kleinen Klosterkapelle aufzuhängen und so die Mädchen, die auf den einen warteten, der sie heiraten wollte wegen ihrer Mitgift und ihrer Fügsamkeit, immer daran zu erinnern, wem sie ihr Leben, ihre Zukunft, verdankten.

Ave Maria, sang die zierlichste der Jungfrauen in der düsteren Kapelle, demütig und leise. Sie hatte die Schokolade gestern gerochen, hatte beim hastigen Vorbeieilen an der Tür der Privatzimmer der Priorin die teuren Keramiktässchen klappern hören und die gedämpften Stimmen der alten Frauen. Sie hatte die Schokolade gerochen und gespürt, wie sich der Speichel auf ihrer Zunge sammelte. Sie war noch ganz jung, vielleicht fünfzehn, blass, die Haare hatte man ihr kürzer geschoren als den anderen, weil sie Unmengen von Locken hatte. Dir wächst das Zeichen der Sünde auf dem Kopf, sagten die Nonnen.

 

Morgen durfte sie mit den älteren Mädchen an der Prozession teilnehmen. In der Hoffnung, daß der eine sie erblickte und bei der Oberin um ihre Hand anhielt. Sie hatte das Kloster noch nie verlassen. In den Bereichen, in denen sie sich aufhalten durfte, gab es nur eine Möglichkeit, nach draußen zu schauen. Ein winziges Fenster, in dem eine Scheibe zerbrochen war. Machte eines der Mädchen die Feuerleiter, konnte das andere hochsteigen und hinausschauen. Auf die gegenüberliegende Mauer zwar nur, aber es gab Geräusche. Stimmen, Hundegebell, das Rattern von Karrenrädern über die Straße. Und dann gab es das Licht, das anders war als drinnen im Klosterhof. Sonntags die Beichte. Oder auch nicht.“

 

(Auszug aus meinem unveröffentlichten Roman „Die Farbe der Limonen“, 2003)

Das Gemälde von Antoniazzo Romano, auf das im Text Bezug genommen wird, können Sie hier anschauen: http://www.arte.it/opera/annunciazione-285

 

Meine heutige Sitzung im Museum Behnhaus-Drägerhaus beginnt damit, dass sie nicht beginnt, denn die Galerie öffnet erst um elf Uhr statt, wie von mir angenommen, um zehn. Also kehrt und ab in die Bäckerei Junge neben St. Jakobi. Ich bestelle einen Kaffee und klemme mich an den letzten freien Tisch im Eingangsbereich, zwischen zwei alte, unrasierte Männer, die nach Schweiß und Zigaretten riechen. Sie wärmen sich hier auf, trinken den billigsten Kaffee, der auf der Liste über dem Tresen steht, gehen aufs Klo, ehe sie den Tag wieder auf der Straße oder in ihrem Zimmer im Waisenmännerheim in der Fischergrube verbringen. „Waisenmänner“ – das Wort habe ich von van Gogh gelernt, der die Obdachlosen und von der Gesellschaft ausgestoßenen Männer in ihren geflickten Mänteln vor der Suppenküche mit derben schwarzen Kreidestrichen gezeichnet hat. Oft hat er sie mit den von ihm ebenfalls in seiner ersten Phase als Maler gezeichneten alten Kopfweiden verglichen, die schwarz und einsam im Gegenlicht die Äcker säumen. Man kann in jedem Lebensalter eine Waise sein; vielleicht sind Waisenkind oder Waisenmann einfach die ehrlichere Art, das Leben zu beginnen und zu beenden. Allein.

 

Die Kirchturmuhr von St. Jakobi schlägt endlich elf, ich lasse den erst halb ausgetrunkenen schwarzen Kaffee stehen und gehe hinüber ins Museum, um mich eine Stunde lang vor das Bild „Das Waisenhaus zu Lübeck“ von Gotthard Kuehl (hier der Link zur Seite, auf der Sie weiter unten ein Foto des Gemäldes finden können: https://museum-behnhaus-draegerhaus.de/de/Begegnungen ) zu setzen. Als ich mir den Klappstuhl aus der Garderobe hole, kommen mir aus dem Saal mit den Caspar-David Friedrichs zwei Männer entgegen. Sie bleiben in der großen Diele mit den wunderschönen alten Steinplatten, dem Lehmbruck und der Büste von Heinrich Mann stehen und schauen sich interessiert um. Anscheinend sind sie zum ersten Mal hier.

 

Ich gehe zurück zur Kasse, dann gleich rechts zwei Stufen hinunter in einen dunkel gefliesten Zwischenraum, der ganz Gotthard Kuehl und seiner von Liebermann inspirierten Malerei gewidmet ist. Hier unten riecht es plötzlich nach Holzfeuer. Wahrscheinlich heizt ein Nachbar seinen Bullerofen, und der Geruch zieht durch irgendeine Ritze hier herein. Von drüben aus dem Shop kommen die gedämpften Stimmen der Kassendame und des Aufsehers.

 

Lübeck ist seit Wochen eher lichtlos, dichter Hochnebel lässt die Kirchtürme verschwinden, die klamme Kälte macht den Körper steif und den Geist nervös. Von Frühling keine Spur. Auf dem lichtdurchfluteten Gemälde Kuehls hingegen, das die Kinder des Lübecker Waisenhauses in ihrer Freizeit beim Lesen, Schach spielen und Unfug treiben zeigt, stehen Vasen mit Dahlien in den Fenstern und auf dem langen Holztisch, das rote Kleid des schon älteren Mädchens im Vordergrund hat kurze Ärmel, und die Bäume im Garten des Waisenhauses leuchten in sattem Grün. Rechts im Bild sind die hohen Sprossenfenster und die Kippfenster darüber weit geöffnet. Ich kann das Holz des durchwärmten Dielenbodens und der langen Eichentische und –bänke förmlich riechen.

 

Das Waisenhaus zu Lübeck ist eine der ältesten Einrichtungen dieser Art in Deutschland. 1847 feierte es sein dreihundertjähriges Bestehen, und zu diesem Anlass hat ein ehemaliger Zögling des Instituts, über dessen Identität allerdings keine Einigkeit besteht – es stehen David Friedrich Johann Richter oder Johann Paul Friedrich Grone zur Auswahl – eine Festschrift verfasst. In diesem Büchlein heißt es: „… die Art und Richtung der Wohlthätigkeit war in der katholischen Zeit eine durchaus andere. Sie war, um es mit einem Wort zu sagen, wesentlich eine geistliche. Kirchen und Klöster waren die natürlichen Schutzpatrone der Armen, die außerdem in den zahlreichen geistlichen Bruderschaften, Armenhäusern und Kalanden Aufnahme oder doch mindestens Unterstützung fanden. Aber wenn so die Armenpflege des Mittelalters in den Händen der Geistlichkeit lag, so theilte sie beim Ausgang desselben auch all das tiefe Verderben, welches über die kirchliche Welt gekommen war … Nicht gering ist sicherlich die Rückwirkung, welche unser Armenwesen durch die kirchliche Reformation erfuhr. Denn früher und entschiedener als anderer Orten ist bei uns das Armenwesen in Folge der Reformation Sache des Staats oder Sache der bürgerlichen Gemeinde geworden. … So wurden endlich neue Wohlthätigkeitsanstalten größeren Maaßes gegründet, die durchaus nicht mehr auf geistlichem Boden wurzelten, ja, jedes unmittelbaren Zusammenhangs mit der Kirche entbehrend, von Bürgern errichtet, von Bürgern verwaltet wurden.“

 

Die Geschichte der „elenden Jungfrauen“ vom Anfang dieses Blogs spielt 1623 im katholischen Rom. In Lübeck dagegen liegt die Fürsorge für elternlose Kinder dagegen bereits seit 1547 in den Händen der Bürgerschaft. Der Gründung des Waisenhauses vorausgegangen war eine Katastrophe. Ein Hungerwinter, der vor allem die Ärmsten der Armen umbrachte, dazu eine Epidemie, die viele Kinder elternlos hinterließ.  Sie bettelten oder gingen wortwörtlich vor die Hunde. Eine Bürgerstiftung schuf Abhilfe, und man suchte, nachdem das erste Quartier im Klingenbergschen Gasthaus, eine ehemalige Pilgerherberge, sich nur als Übergangslösung erwies, ein eigenes Haus für die Waisen zu erwerben. Zunächst bezog die Anstalt ein Quartier im Aegidienkloster, ehe sich 1802 die Gelegenheit zum Erwerb des Domdekanats bot. Immer wieder wuchs das Stiftungsvermögen durch Vermächtsnisse zu Geld und Ansehen gekommener ehemaliger Zöglinge. Am 18. Juli 1810 fand der Umzug statt, 97 Kinder, darunter 69 Knaben und 28 Mädchen im Alter zwischen 0 und 15 Jahren, übersiedelten in das geräumige, lichtdurchflutete Haus, zu dem ein Garten und verschiedene Wirtschaftsgebäude gehörten.

 

Der Autor beschreibt die Ausstattung und das Leben im Waisenhaus sehr detailliert. Hier nur ein kurzer Überblick: Neben dem Kindervater gab es eine Köchin, männliches und weibliches Dienstpersonal, einen Schneider mit seiner Frau und einen Lehrling. Lehrer, Pfarrer und Arzt kamen ins Haus. Die Knaben erhielten nicht nur Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen, es gab Naturgeschichte, Geografie, biblische Geschichte, Gedächtnisübungen,  Singen und Religion. Irgendwann wurde sogar Zeichnunterricht eingeführt, allerdings nur für die Jungs. Sie sollten im Anschluss an ihre Zeit im Waisenhaus gut in eine Lehre vermittelbar sein. Die weiblichen Zöglinge erhielten weniger Wochenstunden und eine schlechtere Bildung. Von klein auf wurden sie zu häuslichen Arbeiten anghalten, zum Stopfen, Flicken, Stricken, Nähen, Betten machen, Waschen. Sie verrichteten diese Arbeiten auch für die Knaben und wurden so auf ihre späteren Tätigkeiten als Dienstpersonal in Bürgerhäusern vorbereitet. Im Garten gab es ein Reck und einen Barren für Leibesübungen, selbstverständlich nur für die Jungen. Die spielten Ball, ließen Drachen steigen oder halfen im Gemüsegarten, die Mädchen hingegen saßen auf Bänken, strickten, gingen spazieren oder spielten Fangen. Die Schlafsäle waren getrennt und wurden nachts mit einer Gittertür verschlossen. Davor kampierte ein Knecht als Wächter. Auf ordentliche Ernährung und regelmäßige Mahlzeiten sowie auf ausreichende Mußestunden wurde geachtet. Gotthard Kuehls schönes Bild einer Mittagspause vermittelt den Eindruck, eine Kindheit im Waisenhaus zu Lübeck sei erfüllt gewesen von Wärme, Licht, Freundlichkeit und Zukunft.

 

Dass dies vermutlich nicht so war, dass es ebenso wie in den Kinderheimen des zwanzigsten Jahrhunderts, deren Schande zur Zeit mehr und mehr aufgedeckt wird, zu Misshandlungen, Missbrauch, ungewollten Schwangerschaften gekommen sein wird, liegt nahe. Dennoch war der Anspruch hoch.

 

Der Autor der Festschrift von 1847 sagt: „In die letzten fünfzig Jahre fällt der Wendepunkt, von welchem an unsere neuere Pädagogik überhaupt und, so auch folgeweise unsere Waisenerziehung, andre Gestalt und andern Charakter gewonnen hat. Dieser Umschwung, welcher philantropische Grundsätze an Stelle des bisher herrschenden Princips der Strenge und der durch sie erzeugten Furcht auch in das Unterrichtswesen der niedern Stände einführte, und welcher sich im Großen an die Namen: Basedow, Campe, Salzmann u.a.m. anknüpft, fällt bei uns in den Anfang dieses Jahrhunderts und ziemlich mit dem Erwerb des neuen Waisenhauses zusammen. Bis dahin war eine strenge Zucht in Allem vorwaltend, ein unerbittliches System körperlicher Strafen. Halseisen und Fußblock waren zwar schon in der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts abgeschafft, aber Stock und Ruthe wurden täglich bei beiden Geschlechtern und in jedem Alter als unumgänglich nothwendig angewandt, und dies sogar bei dem Religionsunterricht. Selbst die unabsichtlichsten Vergehen gegen die bestehenden Ordnung oder gegen die Gebote der Lehrer fanden keine Gnade in den Augen der letzteren. Die ältesten Knaben mussten in den sogenannten Vakanzstunden eine genaue Aufsicht führen über die Jüngeren, dass keiner derselben sich irgend einer Art lauter Fröhlichkeit hingäbe. Die Vorsteher sprachen nur soviel, als durchaus nothwendig, mit dem Kindervater, und selten mit den Lehrern, gar nicht mit den Kindern. Die Lehrer selbst ließen sich mit den Kindern nicht anders ein, als um ihnen Verbote einzuschärfen und um Übertretungen zu rügen. Nicht minder ward der Kindervater gefürchtet, dem, im Commando und Umgang des Schiffsvolks, Rauhheit und Härte gewöhnlich zur andern Natur geworden war. …

 

Die neuere Zeit hat nun gesucht, den allzubeschränkten Kreis des Unterrichts zu erweitern, und die Strenge der Zucht zu mildern, ohne darum die altererbte Einfachheit und Frömmigkeit der Sitte aufzuopfern. … Die Strafen im Fall von Unart oder Unfleiß anlangend, so wird zuerst gewarnt, alsdann am Tisch herabgesetzt, Belustigungen oder Besuch seiner Verwandten am Sonntag untersagt, auch wird wohl für einen Mittag Hunger verhängt. Nur selten finden körperliche Züchtigungen statt und auch dies nur bei jüngeren Knaben, die auf Zureden und Verweise nicht hören und die geringeren Strafen nicht achten.

 

Die Auszeichnungen und Aufmunterungen zu artigem Betragen und regem Fleiße bestehen namentlich in der Wahl zu verschiedenen Ehrenämtern. Als solche sind zu nennen die Stelle eines Unterburschen, eines Kindervater- und Schneider-Burschen, zweier Schuhaufseher, während die Mädchen zum Mitordnen der Wäsche – wovon jedes Kind sechs Hemden, sechs Halstücher und sechs Paar Strümpfe besitzt – zugezogen werden. Als Auszeichnung gilt es ferner für die Knaben, von den zehnen zu sein, welche zum Ziehen der hiesigen Stadtlotterie auserlesen werden, oder einzeln zur Ziehung von Privatlotterien verwandt zu werden. Auch unter die zehn oder zwölf Knaben gewählt zu werden, welche vor dem jährlichen Vogelschießen mit Vogel, Kranz und dem König, nach alter Sitte in der ganzen Stadt und deren Thorbezirke umherziehen, um Geldgeschenke zu sammeln, wird als Ehre angesehen, sowie nicht minder die Wahl zur Königin, deren vier auf jedem Vogelschießen gewählt werden.“

 

Für gute Noten erhalten die Kinder bei der jährlichen Schulprüfung im November ebenfalls Geld, und es gibt noch andere Möglichkeiten, während des Aufenthalts im Waisenhaus, der mit dem fünfzehnten Lebensjahr endet, etwas Geld für später zu sparen. Der Autor beklagt allerdings, dass diese Einnahmen, aus denen die Kinder dann ihre Ausstattung für ihr neues Leben als Erwachsene bezahlen müssen, in den vergangenen Jahren stetig gesunken sind. Es wäre wünschenswert, schreibt er, wenn den Jugendlichen auch noch etwas übrig bliebe, da vor allem die Knaben während ihrer Lehrzeit oft nichts verdienen und nur Kost und Logis erhalten.

 

Es ist elf Uhr vierzig, und bisher habe ich noch keinen Besuch von jemand anderem als dem Aufseher erhalten. Ich sitze in dem kühlen Durchgangsraum, den man entweder von der Kasse aus oder über eine Treppe aus dem ersten Stock erreicht. Die Bilder Gotthard Kuehls sind gut ausgeleuchtet und zeigen ganz verschiedene Szenen aus dem Lübecker Alltag Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Schade, dass sich in der Regel meist nur wenige Besucher hierher in diesen Winkel verirren.

 

Links neben dem querformatigen Gemälde mit der friedlichen Mittagsszene im Waisenhaus hängt ein schmales, hochformatiges Bild mit dem Ganzfigurporträt einer schon älteren hübschen blonden Waise im Profil. Das Schild weist es als Studie zu einem größeren Gemälde mit dem Titel „Vespersuppe im Waisenhaus zu Lübeck“ aus, das sich nicht im Museum befindet. Zwei Dinge fallen an diesem Bild auf. Zum einen trägt das Mädchen nicht die übliche Tracht der Waisenmädchen, die aus einem zinnoberroten Kleid mit dunkelblauer Schürze und weißer Bluse besteht. Zwar ist ihr Kleid das Übliche, doch die lange Schürze ist weiß, um die Schultern liegt eine weiße kurze Seidenstola, das Haar wird von einer durchsichtigen kleinen Haube bedeckt, das Mädchen, eher schon junge Frau, trägt Ohrringe und einen Ring am rechten Ringfinger. In der Hand hält sie einen Zinnbecher und verharrt einen Moment, ehe sie zu den anderen Zöglingen hinüber geht. Links neben ihr befindet sich ein Babyhochstuhl aus dunklem Holz, davor ein erhöhter kleiner Tisch, und davor eine kurze Bank, auf der vermutlich ein älteres Kind oder eines der Dienstmädchen Platz nimmt, um bei den Mahlzeiten das jüngste Waisenkind im Hochstühlchen zu füttern.

 

Weshalb trägt das Mädchen eine so festliche Kleidung? Weshalb porträtiert der Maler sie genau an diesem Ort? Die Assoziation, die sich einstellt, ob vom Künstler beabsichtigt oder nicht, ist eine des Übergangs. Vom Waisenhauszögling hinaus ins Leben. Vielleicht deuten Haube und Schmuck darauf hin, dass das Mädchen heiraten wird? Wie eine zukünftige Dienstmagd wirkt sie jedenfalls nicht, und könnte das Hochstühlchen nicht ein Hinweis auf eine Eheschließung sein, aus der künftige Kinder zu erwarten sind? Auf guten Gemälden ist nie etwas zufällig, warum sollte es hier anders sein?

 

Jetzt kommt jemand die Holztreppe herunter; es sind die beiden Männer von vorhin. Einer von ihnen geht sofort in den angrenzenden Salon mit seinen altmodischen Porträts Lübecker Bürger, der andere schaut sich die Kuehls an, liest die Vita des Malers. Dann verschwindet auch er durch die Flügeltür im Salon. Dielen knarren, es riecht noch immer nach Holzfeuer hinter unten.

 

Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, ich sei eine Waise oder wenigstens ein Adoptivkind. Diese Fantasien waren sehr ausgeprägt, und ich lebte eine Weile, teils neugierig-hoffnungsvoll, teils ängstlich, in der Erwartung, endlich zu erfahren, dass ich nicht das Kind meiner Eltern bin. In meiner Familie habe ich mich immer fremd gefühlt, aber es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass das nicht an meiner Familie lag, sondern allein an mir selbst. Wahrscheinlich besteht der Trick darin, dass wir lernen müssen, uns selbst Vater und Mutter zu sein. In letzter Zeit denke ich oft: Vielleicht ist Freundschaft eine Erlösung vom Waisendasein. Liebe ist es jedenfalls nicht.

 

© Beate Schaefer, 2017