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Post aus Lübeck II

Nostalgia III

 

Manchmal, besonders morgens, wenn ich vom Burgtor aus durch die noch ein wenig schläfrige Stadt zur Probebühne in St. Jürgen laufe, riecht Lübeck wie Rom. Ich vermute, das liegt an den alten Backsteinen und am Straßenpflaster, hier in den Gassen oder zwischen zwei geteerten Straßenabschnitten aus Granit und vereinzelt wie in Rom aus unzerstörbarem Basalt.

 

Seit meiner Kindheit mag ich den Geruch von Steinen, von Mörtel, von alten Kellern, aufgeheizten Dachböden mit rohen Dielen, dem gemauerten Kamin, dessen Klappe einen schwarzen Rand von Ruß hat, den alten Pfannen, durch deren Ritzen man das Gezeter der Spatzen hören kann. Es gibt Leute, die einen Backstein aufgrund seiner Form, seiner Struktur, seiner Farbe und der Art, wie er vermauert wurde, ziemlich genau datieren können. Für diese beneidenswerten Menschen ist eine hunderte oder gar tausende Jahre alte Mauer wie ein Text, dessen Sprache sie verstehen. Mir fehlen solche Kenntnisse leider, aber was mich interessieren würde, ist, woher die weißen Marmorblöcke stammen, die in der Außenmauer von St. Jakobi verbaut wurden. In Rom sind solche Spolien aus antiken Tempeln oder profanen Bauwerken in den Häuserwänden der Altstadt-Palazzi etwas völlig Normales, aus dem Schutt der Vergangenheit entsteht mangels Baumaterial und aus Kostengründen das Neue.

 

Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen.

 

Am Tag des offenen Denkmals war ich zum ersten Mal in St. Katharina und habe dort Bekanntschaft geschlossen. Der Herr (oder die Dame) ist mehr oder weniger nackt, hat einen vollständig skelettierten Kopf, der Körper jedoch befindet sich in verschiedenen Phasen der Verwesung, Sehnen und Muskeln treten unter der schlaffen Haut hervor, man meint, das Aderngeflecht bereits sehen zu können.

Besonders an dieser barocken Vanitas ist die Lust, mit der der Künstler hier seine anatomischen Kenntnisse vorführt und uns quasi im Zeitraffer teilhaben lässt an unserer körperlichen Vergänglichkeit.

 

In der Cappella Sansevero in Neapel gibt es ein Pendant dazu, wenngleich noch viel bizarrer. Zwei von Giuseppe Salerno, einem Arzt aus Palermo, 1763-64 völlig konservierte Leichen – ein Mann und eine Frau – sind dort ausgestellt, deren Blutgefäße und innere Organe vollständig erhalten sind. Bis heute weiß niemand, wie es Salerno gelungen ist, dieses Wunder zu vollbringen. http://www.museosansevero.it/it/statue-e-macchine-anatomiche/macchine-anatomiche

 

Noch mehr „unter die Haut“ geht allerdings der Anblick des „Cristo velato“ von Giuseppe Sanmartino (1753), einer hyperrealistischen, liegenden Marmorstatue des nackten, toten Christus, dessen Leichentuch ihn, obwohl es ihn vollständig bedeckt, mehr entblößt als verhüllt. Auch dieser Körper befindet sich bereits ansatzweise im Zustand der Verwesung, er wirkt saftlos, drainiert, Muskeln und Sehnen zeichnen sich deutlich ab, Knochen treten hervor. http://syndrome-de-stendhal.blogspot.de/2014/02/giuseppe-sanmartinos-bildhauerisches.html

 

Die Kapelle ist ein Muss für Touristen, aus den Lautsprechern gibt es zum barocken Schauer Mozart. Als ich mit meinem Begleiter die Krypta über die enge Wendeltreppe verließ, beschwerte ich mich über die „kitschige“ Beschallung, woraufhin er (ja, der mit dem Röntgenblick für antike Backsteine) lapidar bemerkte: „Wieso, das war doch die Welt, in die Mozart hineingeboren wurde.“